Eine Medaille hat mindestens zwei Seiten. Das wissen wir. Aber …
Meistens bilden wir uns eine Meinung von dem was wir sehen, von dem was uns an Kenntnissen, Informationen vorliegt. Oft vergessen wir, auch die dann von uns abgewandte Seite der Medaille zu betrachten. Oder wir wollen sie gar nicht sehen. Zum Beispiel weil das Arbeit macht. Außerdem könnte es ja sein, dass diese Seite mir Dinge zeigt, die nicht in „mein Bild“ passen, die meine gefestigte Meinung verwässern oder gänzlich auflösen würden. Und dann gibt es noch eine dritte Variante: Es wird uns verwehrt, die andere Seite der Medaille anzuschauen.
Interessant daran ist auch: Die Medaille bleibt die Medaille. Unverändert. Oder, um es semijuristisch auszudrücken: Sie ist unumstößliche Tatsache. Sie ist Fakt. – Und anschließend kommen wir und bekleckern die Medaille mit unseren Meinungen über sie.
Das Internet ist auch so eine Medaille.
Ich bin ein großer Fan des Internets. Jedoch nicht ausnahmslos. Die Datenkraken machen mir Sorgen: Facebook, Alexa, Überwachungs-Armbanduhren, -Fernseher, -Stromzähler, Fahrassistenten und so weiter. Wenn dann jemand schreibt: Schmeißt die Assistenzwanzen aus dem Fenster!, poste ich dazu laut jubelnd drei „Daumen hoch“.1 Denn das passt zu „meiner“ Seite der Medaille.
Kurz darauf spült mir mein Feedreader diese Überschrift um die Füße: „Wir im Westen können uns leisten, das Netz kritisch zu sehen“. Uhi! Das klingt nicht nach meiner Medaillenseite.
Diese Debatte um Privatsphäre, die uns im Westen so beschäftigt, dass Internet-Firmen unsere Daten sammeln, kaufen und verkaufen, ist in vielen Ländern weit entfernt vom Alltag und den Sorgen der Menschen. Für sie ist das Internet ein Freiraum, wo sie eine neue Identität annehmen können und exotische Freunde aus der ganzen Welt haben können. In Ländern wie Brasilien oder Indien sind die Hälfte bis zu zwei Drittel der Freunde auf Facebook Fremde. Bei uns sind es weniger als fünf Prozent.
— Payal Arora2
Auch wenn es mir eigentlich nicht in den Kram passt, das ist nachvollziehbar. Hinzufügen will ich aber noch: Nicht nur Internetfirmen sammeln und verkaufen Daten. Einige staatliche Behörden sind da auch recht umtriebig. Und mit der Privatsphäre sollen sie es ebenfalls nicht so haben …
Dann lese ich so eine Zwischenüberschrift: „Der Markt an sich ist nicht das Problem“. Wieder sage ich mir, dem Medaillen-Reflex folgend: Das sehe ich aber anders! Aber, ich gebe es zu, ich habe die Worte „an sich“ überlesen.
iRights.info: Ist es nicht eher eine andere Möglichkeit, uns als Bürger*innen ruhig zu halten – im Sinne von Brot und Spielen?
Payal Arora: Das glaube ich nicht. In der ganzen Debatte über den Überwachungskapitalismus gibt es eine Grundannahme, die immer mitschwingt, dass nämlich der Markt als Prinzip etwas Negatives, Toxisches ist. Wir müssen aber sehr vorsichtig sein, Märkte komplett abzuschreiben. Global gesehen haben Märkte nämlich – egal ob in Namibia, Ghana oder Südostasien – als Gegengewicht zu den autoritären Regimen fungiert. Märkte haben auf die Bedürfnisse von Nutzer*innen reagiert, wenn staatliche Stellen das nicht getan haben.
Was natürlich gefährlich ist, ist wenn der Staat und die Märkte zusammenarbeiten, um Oligarchien zu erschaffen und Ungleichheit zu erhalten und zu vergrößern. Aber wir sollten den Markt an sich nicht abschreiben. Der Kapitalismus hat – und das ist nachweisbar – Millionen von Menschen aus der Armut geholt und Ungleichheit verringert. Voraussetzung war die richtige staatliche Regulierung, sorgfältige Abwägung und die richtige Balance der verschiedenen Stakeholder, die sich gegenseitig kontrollieren.
Der Markt an sich ist nicht das Problem. Allerdings sind die staatlichen Regulierungsmechanismen oft so schwach und verwässert, dass er entweder von den Mächtigen im Staat oder den Lobbygruppen usurpiert wird. Ein Markt im eigentlichen Sinne existiert in vielen Ländern gar nicht mehr.— Payal Arora2
Ich kann es mir aber nicht verkneifen, einen Satz herauszustellen: „Was natürlich gefährlich ist, ist wenn der Staat und die Märkte zusammenarbeiten.“
…
Tja, was habe ich davon gelernt? Es ist wie so oft: Es kommt darauf an3 aus welchem Blickwinkel du die Dinge siehst und beurteilst. Lass dich von dem Madaillen-Reflex nicht davon abhalten, den Argumentationen anderer Meinungen sachlich zu folgen.
- Stimmt, das habe ich noch nie gemacht. Ich bin nicht bei Facebook. Aber ich rufe laut in mich hinein: »Yes! Weg damit!« [return]
- Siehe: „Wir im Westen können uns leisten, das Netz kritisch zu sehen“, irights.info, 8.8.2019, Interview mit der Medienwissenschaftlerin Payal Arora. [return]
- Ihr habt es bemerkt. Das ist eines meiner Mottos, und auch das von soheit.de (siehe ganz oben). [return]